Kann man eine Strafanzeige zurücknehmen?

Polizei Polizisten Strafanzeige
Eine Anzeige bei der Polizei kann man nicht zurücknehmen. Aber einen Strafantrag. – Photo by Mike Powell on Unsplash

Die Rücknahme der Strafanzeige –
Ein häufiger Irrtum!


Als Rechtsanwalt für Strafrecht begegnen einem immer wieder Irrtümer über die Strafjustiz und das Strafverfahren. Zu den häufigsten Irrtümern zählt sicherlich die Annahme, dass man eine Strafanzeige bei der Polizei zurücknehmen kann. Die Frage der Rücknahme der Strafanzeige stellt sich häufig dann, wenn sich die Anzeige gegen den Partner, gegen Familienangehörige, Freunde oder Bekannte gerichtet hat. Es kommt oft vor, dass sich die Beteiligten nach der Strafanzeige wieder geeinigt oder versöhnt haben, sodass eine Bestrafung von demjenigen, der die Anzeige erstattet hat, gar nicht mehr gewünscht ist. Doch die Geister, die man rief, wird man so einfach nicht mehr los. Denn eine Strafanzeige kann man nicht einfach zurücknehmen – im Unterschied zum Strafantrag, bei dem § 77d StGB eine Rücknahme ausdrücklich vorsieht. Wenn nur der Antrag, nicht aber die Anzeige zurückgenommen werden kann – was unterscheidet dann die Strafanzeige vom Strafantrag?


Lesen Sie hier zur Rücknahme der Anzeige:


Strafanzeige – Strafantrag: Was ist der Unterschied?

Die Strafanzeige ist genau das, was ihr Name sagt: Die Anzeige einer Straftat. Jeder, der Kenntnis von einer Straftat erlangt hat, kann zur Polizei gehen und diese Tat anzeigen. Wenn zum Beispiel Herr Müller aus dem Fenster beobachtet, dass Jugendliche auf der Straße parkende Autos beschädigen, kann er die Polizei rufen und Strafanzeige erstatten. In einem späteren Strafverfahren wegen Sachbeschädigung ist Herr Müller dann Zeuge, ansonsten hat er mit der Sache nichts weiter zu tun. Ob die Straftat verfolgt wird und wie die Sache am Ende ausgeht, betrifft ihn nicht weiter.

Ganz anders läge der Fall, wenn die Jugendlichen nicht irgendwelche Autos, sondern den Wagen des Herrn Müller beschädigen. In diesem Fall ist Herr Müller nicht nur unbeteiligter Zeuge, sondern, da sein Eigentum betroffen ist, auch Geschädigter der Straftat. In diesem Fall kann er nicht nur Anzeige erstatten, er kann auch mit dem Strafantrag (vgl. §§ 77 ff. StGB) zum Ausdruck bringen, dass er die Verfolgung der Straftat wünscht. Regelmäßig wird ein Anzeigeerstatter, der gleichzeitig auch Verletzter der Tat ist, von der Polizei gefragt, ob auch Strafantrag gestellt wird. Welche Bedeutung der Strafantrag dann für das weitere Verfahren hat, hängt von der Art des Deliktes ab.

 

Infografik Strafanzeige Strafantrag Rücknahme
Strafanzeige und Strafantrag müssen unterschieden werden. 

 

Offizialdelikt / Antragsdelikt  - Unterschiede

Strafjuristen unterteilen die verschiedenen Straftatbestände in Offizialdelikte und relative bzw. absolute Antragsdelikte

 

Absolute Antragsdelikte

 

Strafanzeige - Strafantrag
Rücknahme einer Strafanzeige?

Grundsätzlich ist es Sache des Staates, Straftaten zu verfolgen. Es gibt aber Delikte, bei denen es in der Hand des Geschädigten liegen soll, ob der Täter bestraft wird. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Beleidigung gem. § 185 StGB oder beim Hausfriedensbruch gem. § 123 StGB. Bei Delikten dieser Art – man nennt sie absolute Antragsdeliktemuss ein Strafantrag vorliegen, damit die Tat überhaupt verfolgt werden kann. Wird in diesen Fällen Anzeige erstattet, aber kein Strafantrag gestellt, kann es nicht zu einer Verurteilung kommen, weil ein Verfahrenshindernis vorliegt. Das Ermittlungsverfahren muss dann eingestellt werden.

Relative Antragsdelikte

Absolute Antragsdelikte sind im StGB eher selten. Häufiger sind die sogenannten relativen Antragsdelikte. Bei den relativen Antragsdelikten muss zwar grundsätzlich auch ein Strafantrag vorliegen. Fehlt dieser aber, kann die Staatsanwaltschaft die Straftat trotzdem verfolgen, wenn die Verfolgung der Tat im “öffentlichen Interesse” liegt. Dieses öffentliche Interesse (das häufig bejaht wird) kann bei den relativen Antragsdelikten also den Strafantrag des Verletzten ersetzen.

 

Erstberatung

Offizialdelikte

Neben den Antragsdelikten gibt es noch die Offizialdelikte – für die Verfolgung dieser Taten bedarf es überhaupt keines Antrags des Verletzten, auch ein öffentliches Interesse muss nicht explizit bejaht werden. Alle schweren Straftaten sind Offizialdelikte – wer also zum Beispiel Opfer einer Raubtat (§ 249 StGB) wurde, kann nicht entscheiden, ob die Tat verfolgt werden soll oder nicht, ein Strafantrag ist nicht notwendig, damit die Sache verfolgt werden kann. 

 

Was bedeutet das für die Rücknahme der Strafanzeige?

Eine Strafanzeige kann also nicht zurückgenommen werden. Hat die Polizei durch die Strafanzeige Kenntnis von der Straftat erlangt, nimmt sie die Ermittlungen auf – sie ist wegen des sog. Legalitätsprinzips sogar dazu verpflichtet. Zurückgenommen werden kann allerdings der Strafantrag (§ 77d StGB). Was allerdings geschieht, wenn der Antragsberechtigte (in der Regel der Verletzte) seinen Strafantrag zurückzieht, hängt von der Art des Deliktes ab.

Bei den absoluten Antragsdelikten fehlt es mit der Rücknahme des Strafantrags an einer Verfahrensvoraussetzung, die Sache kann nicht weiter verfolgt werden. Das Verfahren ist deshalb einzustellen.

Bei den relativen Antragsdelikten – und das sind praktisch die häufigsten Delikte – hängt die weitere Verfolgung der Sache davon ab, ob die Staatsanwaltschaft ein öffentliches Interesse an der Verfolgung der Tat bejaht. Ist das der Fall, kommt es auf die Rücknahme des Antrags nicht an, die Straftat kann und wird trotzdem verfolgt. Verneint die Staatsanwaltschaft hingegen das öffentliche Interesse – etwa, weil es sich um eine Bagatelle handelt und weil der Beschuldigte bislang nicht aufgefallen ist -, dann wird das Verfahren eingestellt.

 

Rücknahme Strafanzeige - Strafantrag im Überblick

Schema Rücknahme Strafanzeige Strafantrag relatives absolutes Antragsdelikt
Rücknahme der Strafanzeige und des Strafantrags im Überblick. Bei der Rücknahme des Strafantrags kommt es darauf an, ob es sich um ein absolutes oder relatives Antragsdelikt handelt. 

Nicht in der Übersicht sind die Offizialdelikte - bei diesen Delikten ist überhaupt kein Strafantrag notwendig. Alle schweren Straftaten sind Offizialdelikte, zum Beispiel Raub (§ 249 StGB), Vergewaltigung (§ 177 StGB), Gefährliche und schwere Körperverletzung (§ 224, 226 StGB). Unter den Offizialdelikten sind aber auch zahlreiche weniger schwerwiegende Straftaten, wie zum Beispiel Diebstahl (§ 242 StGB), Betrug (§ 263 StGB) oder Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB). Bei all diesen Delikten ist kein Strafantrag erforderlich - eine "Rücknahme der Strafanzeige" ist ausgeschlossen. 

 

Fazit: Rücknahme einer Strafanzeige gibt es nicht

Dass einen Strafanzeige zurückgenommen werden kann, ist also ein Missverständnis. Nur ein Strafantrag kann zurückgenommen werden. Ob sich die Sache mit der Rücknahme eines Strafantrags erledigt hat, hängt vom Delikt ab:

  • Bei einem Offizialdelikt ist ein Strafantrag nicht erforderlich.
  • Bei einem relativen Antragsdelikt kann die Sache verfolgt werden, wenn die Staatsanwaltschaft das öffentliche Interesse bejaht. 
  • Bei einem absoluten Antragsdelikt liegt ohne Strafantrag ein Verfahrenshindernis vor. 

In vielen Fällen, insbesondere bei körperlichen Auseinandersetzungen und in Fällen, in denen der Beschuldigte schon einmal wegen einer Straftat aufgefallen ist, wird das öffentliche Interesse häufig bejaht. Die Sache wird deshalb trotz Rücknahme des Antrags meist weiter verfolgt.

 

Eine Besonderheit darf hier nicht unerwähnt bleiben: Sind Anzeigeerstatter und Beschuldigter verwandt oder verlobt, kann der Geschädigte vor Gericht von seinem Zeugnisverweigerungsrecht (§ 52 StPO) Gebrauch machen. Wenn seine Aussage das entscheidende Beweismittel für eine Verurteilung des Täters ist, dann hat er es faktisch in der Hand, ob es zu einer Bestrafung des Täters kommen kann oder nicht. Auch wenn der Geschädigte deshalb nach einer Versöhnung zwar die Strafanzeige nicht zurücknehmen kann, so kann er, wenn er mit dem Täter verwandt ist, seine Aussage verweigern. Das kann dazu führen, dass das Verfahren eingestellt wird oder dass der Beschuldigte freigesprochen wird.

 

Exkurs: Rücknahme der Strafanzeige und des Strafantrags bei häuslicher Gewalt

Besonders häufig wird gefragt, ob eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt später wieder zurückgenommen werden kann. Häusliche Gewalt ist kein Straftatbestand, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Delikte, die im häuslichen Umfeld oder in Beziehungen besonders häufig begangen werden. Meist handelt es sich aus strafrechtlicher Sicht um den Vorwurf der Körperverletzung, oft einhergehend mit einer Nötigung. Auch der Vorwurf der Nachstellung (Stalking) kann im Raum stehen.

Bei diesen Delikten gilt das, was bereits oben ausgeführt wurde: Strafanträge können zurückgenommen werden, Strafanzeigen aber nicht. Ob das Ermittlungsverfahren mit der Rücknahme des Strafantrags eingestellt werden muss oder nicht, hängt davon ab, ob es sich um ein Offizialdelikt oder um ein absolutes bzw. relatives Antragsdelikt handelt.

  • Die Nötigung gem. § 240 StGB ist ein Offizialdelikt. Hier bedarf es zur Verfolgung also überhaupt keines Strafantrags. Wird das Ermittlungsverfahren wegen häuslicher Gewalt auch wegen Nötigung geführt, hat eine Rücknahme des Strafantrags keine zwingenden Auswirkungen auf das Verfahren.

  • Die einfache Körperverletzung ist ein relatives Antragsdelikt. Der Strafantrag kann zwar zurückgenommen werden. Die Staatsanwaltschaft kann aber das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejahen. Ob das geschieht, hängt vom Einzelfall ab.

  • Wurde die Körperverletzung mittels einer Waffe oder eines anderen gefährlichen Werkzeugs begangen, werden die Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung geführt (§ 240 StGB). Bei diesem Tatbestand handelt es sich um ein Offizialdelikt. Ein Strafantrag ist zur Strafverfolgung nicht erforderlich.

  • Für die Nachstellung gilt das Gleiche wie für die einfache Körperverletzung. Gem. § 238 Abs. 4 StGB wird die Nachstellung ebenfalls nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, die Verfolgung liegt im öffentlichen Interesse. Eine Rücknahme des Strafantrags führt also nicht zu einem Verfahrenshindernis - die Ermittlungen können auch ohne Strafantrag fortgeführt werden.

Alles in allem führt die Rücknahme des Strafantrags in den meisten Fällen der häuslichen Gewalt nicht zwingend zu einer Einstellung der Ermittlungen.

Davon unabhängig ist natürlich die Frage zu beantworten, ob die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen faktisch weiterführen wird, wenn der geschädigte Zeuge oder - meist - die geschädigte Zeugin zum Ausdruck gebracht hat, dass sie an der weiteren Verfolgung der Tat kein Interesse mehr hat. Und auch die Frage, ob die Tat später beweisbar ist oder nicht bzw. ob sich die Zeugin später ggf. auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen kann, kann für das weitere Schicksal des Verfahrens eine Rolle spielen.